Subsidiarität

„Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist (…),“ heißt es seit 1993 im Artikel 23 des Grundgesetzes.

Dieses Subsidiaritätsprinzip zu fördern hat unser Stifter, Martin Leicht, im Jahr 1998 unserer Stiftung zur Aufgabe gemacht. In unserer Satzung formulierte er: „Als Organisationsprinzip menschlichen Zusammenlebens erwartet das Subsidiaritätsprinzip, dass Aufgaben nur dann auf eine übergeordnete Gemeinschaft übertragen werden können, wenn die untergeordnete Gemeinschaft sie nicht mehr zu erfüllen vermag.“

Mit dem Namensbestandteil „für Eigenverantwortung und Gemeinwohl“ sind die beiden Pfeiler des Subsidiaritätsprinzips schon beschrieben. Die Eigenverantwortung steht im Zentrum des Subsidiaritätsprinzips. Gleichzeitig steht aber auch die Solidarität gleichberechtigt daneben. Denn Eigenverantwortung und Gemeinsinn stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern ergänzen sich. „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist die populäre Zusammenfassung.

Martin Leicht hat diese Idee gerne übersetzt. Wenn er vom Subsidiaritätsprinzip sprach, dann sprach er mit dem ehemaligen dänischen Ministerpräsidenten Poul Schlüter vom „Nahheitsprinzip“. Damit ist es nicht nur ein politisches Prinzip, sondern ein humaner Grundsatz. In der katholischen Soziallehre ist die Subsidiarität ein zentraler Begriff.

Das politische Modell eines „Europas der Regionen“ diente ihm als Vorbild. Mit diesem Ansatz wollte er Eigenverantwortung und Gemeinwohl stärken und sich zugleich gegen Zentralisierung, Bürokratisierung und eine ggfs. übertriebene Präsenz des (Wohlfahrts-) Staates wenden.

Kurz und knapp: Auf einen Blick

Anschaulich machen lässt sich das Subsidiaritätsprinzip mithilfe eines Sprichworts: „Gib einem Hungernden einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Hungernden das Fischen und du ernährst ihn für sein Leben.“[1]

Subsidiarität hat zwei Kernaspekte:

  • einen Aspekt der Hilfsbereitschaft („Gebot der Hilfe“)
  • und den Aspekt, die Eigenverantwortung der hilfsbedürftigen Person zu achten („Gebot der Nichteinmischung“).[2]
 

Diese beiden Seiten der Subsidiarität stehen in einem Spannungsverhältnis. Denn das Subsidiaritätsprinzip ruft einerseits zur mitverantwortlichen Unterstützung der Mitmenschen auf und „[…] ist anthropologisch […] in der Sozialnatur der Person […]“[3] verwurzelt, andererseits zeigt es einem aber auch ganz deutlich die Grenzen einer solchen „Einmischung“ auf: der Helfende soll sich letztlich überflüssig machen und die Verantwortung des anderen niemals „an sich reißen“. Der Hilfsbedürftige soll weder alleine gelassen noch abhängig gemacht werden.

Der Begriff Subsidiarität entstammt ursprünglich der römischen Militärsprache und leitet sich von dem lateinischen Wort „Subsidium“ ab. Darunter wurde eine militärische Reservetruppe verstanden, die nur eingreifen sollte, wenn die kämpfenden Einheiten ihre Unterstützung benötigten.

Übertragen auf die Gegenwart wird: „mit dem abstrakten Begriff der Subsidiarität […] gesagt, dass die größere und umfassendere (politische, gesellschaftliche, kirchliche, organisatorische) Einheit dazu verpflichtet ist, der kleineren Einheit Hilfe zu leisten, wo diese nicht in der Lage ist, sich selbst zu helfen.“[4]

Für das subsidiäre Handeln lassen sich somit zwei Bedingungen ableiten:

  1. Hilfe ist nur dann zu leisten, wenn sie erforderlich ist.
  2. Hilfe darf weder übergriffig noch vereinnahmend sein, sondern ist als Hilfe zur Selbsthilfe zu gestalten.
 

Subsidiäre Hilfe wirkt sich tendenziell indirekt unterstützend aus und setzt i. d. R. auf gesellschaftsstruktureller Ebene an. Das Subsidiaritätsprinzip ist deshalb vor allen Dingen ein Ordnungsprinzip.

Es regt dazu an, politische und gesellschaftliche Ordnungen und Strukturen zu entwickeln, die die Eigenverantwortlichkeit des Menschen wahren sollen und ihm autonomes Handeln ermöglichen. Verantwortung muss gesellschaftlich dafür so verteilt und angelegt werden, dass der Einzelne selbstwirksam handeln kann, ohne damit überfordert zu werden. Gesellschaftliche- und politische Strukturen sollen den Einzelnen dazu befähigen, sein Leben und die Gesellschaft verantwortlich (mit-)zu gestalten.

Dem Beispiel von oben entsprechend könnte man das Subsidiaritätsprinzip in dieser Hinsicht sogar eher noch als Anreiz zur Gründung eines Angelvereins, der Unterricht anbietet, gedeutet werden. Das Subsidiaritätsprinzip setzt auf die Eigeninitiative der hilfsbedürftigen Person.

Subsidiäre Hilfe lässt sich, knapp gesagt, als hilfreicher Beistand, Hilfe zur Selbsthilfe oder als Befähigung zur Teilhabe ohne Einmischung verstehen. Sie ist eine Hinwendung zum Anderen unter Wahrung und Respekt vor dessen Eigenverantwortung.

[1] Wird immer wieder Konfuzius zugeschrieben.

[2] Die Charakterisierung der Subsidiarität vor dem Hintergrund dieser zwei Gebote geht auf Arthur-Fridolin Utz zurück: Vgl. (Mäder 2000: 22 f.).

[3] (Spieker 2021).

[4] Diese Äußerung geht zurück auf einen unveröffentlichten Text, den uns Thomas Dienberg 2021 zur Verfügung gestellt hat.

Vertiefung: Gebot der Hilfe - Subsidiarität im Verhältnis zur Solidarität

Handeln nach dem Subsidiaritätsprinzip wird oft vor dem Hintergrund der Solidarität besprochen, weil durchaus relevante Nähen zwischen subsidiärem und solidarischem Handeln bestehen. Das hat vor allen Dingen mit dem „Gebot der Hilfe“ zu tun, das dem Subsidiaritätsprinzip zu Grunde liegt und uns zu einer mitverantwortlichen Haltung gegenüber unseren Mitmenschen aufruft. Deshalb lohnt es sich, auch die Solidarität näher in den Blick zu nehmen.

Wenn man von Solidarität spricht, meint man damit gemeinhin das gemeinsame Eintreten für das Recht und die Interessen von- und einen Zusammenhalt zwischen Menschen(-gruppen). Solidarisches Eintreten für jemand anderen nimmt die Form symbolischer oder materieller Hilfe an, mit der – normalerweise unausgesprochen – auch eine berechtigte Erwartung auf Gegenhilfe einhergeht.[1]

Diese Erwartung, die unserem heutigen Verständnis von Solidarität immer noch zugrunde liegt und sie deshalb von einer Spende oder einem Almosen unterscheidet, liegt in ihrem Ursprung in der Arbeiterbewegung (19 Jh.) begründet. Im Zuge der Industrialisierung arbeiteten mehr und mehr Menschen nun nicht mehr landwirtschaftlich, sondern zogen vermehrt in die Städte und begannen die Arbeit in den Fabriken. Gegen die lebensfeindlichen Umstände auf diesem Arbeitsmarkt solidarisierten (verbündeten) sich die Arbeiter miteinander und stritten zusammen für ihre geteilten Interessen. Gemeinsam forderten sie Mindestlohn, Arbeitsschutz und eine Fünftagewoche.[2] „Solidarität kann also auch ausgeübt werden, wenn man sich persönlich gar nicht kennt.“[3]

Hinsichtlich dieses Aspekts ist Solidarität eng mit dem Konzept der Gerechtigkeit verbunden. Denn während Gerechtigkeit auf den Einzelnen zielt und für den Schutz von dessen Rechten und seiner Würde steht, „[…] zielt Solidarität auf einzelne Personen als ‚Genossen‘ eines ‚gemeinsamen Lebenszusammenhangs‘ (…)“.[4] Handelt man solidarisch, fühlt man sich vor dem Hintergrund einer Ungerechtigkeit oder zumindest einer Widrigkeit als Mitmensch gemeinsam mitangesprochen, gegen diese Ungerechtigkeit zusammen mit den Betroffenen Widerstand zu leisten – selbst dann, wenn man nicht unmittelbar selbst von davon betroffen ist. Solidarität ist damit eine Form der gesellschaftlichen Mitgestaltung und erfüllt das oben erwähnte Gebot der Hilfe.

Solidarität gilt vielen als die unabdingbare Grundlage menschlichen Miteinanders in einer Gesellschaft. Einige bezeichnen sie sogar als ein Bindemittel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.[5] Man kann sogar sagen: „S. (Subsidiarität) setzt Solidarität voraus.“[6] Subsidiarität und Solidarität fließen sozusagen aus derselben Quelle: beide entsprechen dem Gebot der Hilfe, stehen für die Mitverantwortung für seine Mitmenschen und seine Umwelt und haben – wie anhand der angesprochenen Beispiele deutlich wird – zumindest in gewissem Maße etwas mit der Herstellung einer Gerechtigkeit im Sinne der Herstellung einer (Chancen-)Gleichheit zu tun.

Wer sich für Subsidiarität engagiert, setzt sich allerdings für eine ganz bestimmte Form solidarischen Handelns ein, die sich – wie auch die Solidarität – von anderem (altruistischen) Verhalten wie einer Spende unterscheidet. Genau wie die Solidarität stellt auch die Subsidiarität eine (altruistische) Haltung und Verhaltensweise dar, die Hilfe bietet, diese Hilfestellung jedoch an eine gewisse Erwartung koppelt.

Wo derjenige, der solidarisch handelt, von denjenigen, denen geholfen wird, erwartet, dass ihm oder ihr ggf. (im Kontext ihrer Verbundenheit in einer gemeinsamen Interessengruppe) Gegenhilfe geleistet wird, bezieht sich die Subsidiarität in ihrer Erwartungshaltung bei ihrer Hilfestellung vor allen Dingen auf die Eigenverantwortung der hilfsbedürftigen Person.

Wer andere Menschen subsidiär unterstützt, achtet und schätzt die Eigenverantwortung der anderen Person sehr. Mehr noch: die hilfsbedürftige Person wird aus dieser Verantwortung für sich selbst nicht entlassen, sondern im Gegenteil: darin noch bestärkt. Kernziel dieser Art von Hilfestellung ist die Befähigung der hilfsbedürftigen Person, sie wahrt damit vor allen Dingen ihre Unabhängigkeit und Autonomie. Insbesondere deswegen sind die Begriffe „Hilfestellung“ und „Beistand“ für subsidiäre Unterstützung treffender als der der Hilfeleistung. Subsidiäre Unterstützung soll eben auch dem „Gebot der Nichteinmischung“ entsprechen. Der Helfende soll in letzter Konsequenz überflüssig werden, weil sich die hilfsbedürftige Person nach der/durch die Unterstützung selbst helfen kann/lernt.

Subsidiarität setzt damit viel stärker als die Solidarität auf die Eigeninitiative der Hilfsbedürftigen.

Eine Charakterisierung von Subsidiarität, die die Aspekte der Befähigung und der Eigenverantwortung betont, die Subsidiarität ebenfalls von der Solidarität abgrenzt, stellt Manfred Spieker vor: „Das S.sprinzip (Subsidiaritätsprinzip) geht von der anthropologischen Voraussetzung aus, dass das Gelingen des menschlichen Lebens in erster Linie von der Bereitschaft und der Fähigkeit des Individuums abhängt, Initiativen zu ergreifen, Anstrengungen auf sich zu nehmen und Leistungen zu erbringen. Der Mensch ist Schöpfer, Träger und Ziel aller sozialen Einrichtungen. Das S.sprinzip gewährleistet deshalb den Dienstcharakter der Gesellschaft und des Staates. Eine föderale, demokratische Verfassungsordnung liegt ebenso in seiner Logik wie eine freiheitliche und soziale Marktwirtschaft. Es ist aus sich selbst heraus antitotalitär. Es schützt die Zivilgesellschaft.“[7]

[1] Vgl. (Braun 2007: insb. 4.)

[2] Vgl. (Braun 2007: insb. 4.).

[3] (Schneider/Toyka-Seid 2023a).

[4] (Hartmann 2013).

[5] Vgl. (Tamm 2013).

[6] (Spieker 2021, Einfügung SWI).

[7] (Spieker 2021, Ergänzung SWI).

Vertiefung: Gebot der Nichteinmischung - Subsidiarität als (politisches) Ordnungsprinzip

Subsidiäre Hilfe lässt sich in zwei Dimensionen betrachten, je nachdem ob einzelne Menschen oder ganze Institutionen/Verwaltungseinheiten involviert sind. Meistens stellt man sich unter Formen von Hilfen und Unterstützungen vor allen Dingen Beispiele horizontaler Subsidiarität vor. Das meint – schlicht gesagt – konkrete Hilfen von Mensch zu Mensch oder Hilfe von Menschen-/Interessengruppen untereinander. Horizontale Subsidiarität stellt „[…] einen Maßstab für Hilfen dar, welche zwischen gesellschaftlichen Gruppen erbracht werden, ohne den Staat mit herein zu ziehen.“[1]

Viel stärker als Solidarität, die vor allen Dingen horizontal gelagert ist: von Mensch zu Mensch, hat Subsidiarität auch eine gesellschaftsstrukturelle Dimension und zieht als Prinzip entsprechende Umstrukturierungen bezüglich der Verteilung von Verantwortlichkeiten in der Organisation einer Gesellschaft nach sich. Spricht man von Subsidiarität in dieser Hinsicht, betrachtet man vertikale Subsidiarität. Hier werden „[…] Handlungen und die Handlungsebenen von Oben nach Unten errichte[t] und stabilisier[t] […].“[2]

„Dieses Prinzip weist demnach nicht vorrangig den Menschen an, wie er handeln soll, sondern macht auf einen Handlungsrahmen, also eine Struktur, aufmerksam, innerhalb derer zu handeln ist. Dieses Strukturprinzip wendet sich somit nicht unmittelbar an ein Einzelhandeln, wie die Prinzipien von Gerechtigkeit, Solidarität und Personalität, sondern fordert, eine bestimmte Ordnung zu errichten.“[3]

Subsidiäres Helfen nimmt entsprechend oftmals die Form an, dass bestimmte Strukturen überhaupt erst geschaffen oder ggf. abgebaut werden, um einer unteren Verwaltungseinheit oder einzelnen Personen gewisse Handlungsspielräume zu verschaffen. Dabei lässt sich das verantwortungsbewusste Eintreten subsidiärer Helfer und Helferinnen treffend als ein Sich-Bereithalten beschreiben: als eine Bereitschaft, helfend-strukturierend Kompetenzen zur Verfügung zu stellen, dies aber mit der erklärten Absicht, sich auch – sobald diejenigen, denen geholfen worden ist, ihre Aufgaben (wieder) selbst übernehmen können – wieder zurückzuziehen.

Eine subsidiäre Grundhaltung zieht uns in eine Bereitschaft, für Andere hilfestellend einzutreten und in die gleichzeitige Bereithaltung auch für einen Rückzug, sobald dies möglich ist: „Die je obere Institution hilft, nicht aus einer zeitweiligen oder dauernden Über- und Ansichnahme der Kompetenz der unteren Einheit, sondern aus eigener Kompetenz, nämlich der der Hilfe; sie ist somit im strengen Sinn auch nicht stellvertretend für die untere tätig! Es kommt also nicht auf den Einsatz der je größeren Sachkompetenz an, sondern auf Selbstentfaltung und -gestaltung der unteren Einheit. Die obere Einheit springt auch nicht streng genommen in eine Lücke ein, der sie gewahr wurde, sondern hält sich aus eigener Verantwortung für die untere Einheit bereit, ihr über ihr ‚Schwächeln‘ oder Versagen so zu helfen, dass sie möglichst bald wieder ihrem Aufgabenkreis wieder gerecht zu werden vermag. Die obere Einheit zieht sich zurück, sobald die untere Einheit wieder kräftig genug ist, ihrem Aufgabenkreis gerecht zu werden.“[4]

Insbesondere für den Staat – als das politisch-gesellschaftliche Ordnungssystem – lassen sich vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips gewisse Vorgaben ableiten. Das Subsidiaritätsprinzip regelt in vertikaler Perspektive die Verantwortungs- und Aufgabenverteilung in einer Gesellschaft: „Das S.sprinzip ist ein Strukturprinzip einer freiheitlichen und menschenwürdigen Staats- und Gesellschaftsordnung. Es verpflichtet den Staat ebenso zur Aktivität wie zur Selbstbeschränkung. Es verpflichtet ihn zur Hilfe für die kleineren und untergeordneten Gliederungen (Länder, Kreise, Kommunen, Selbstverwaltungseinrichtungen), um der einzelnen Bürger und der Familien willen, aber es verbietet ihm auch die Intervention in deren Aufgaben, wenn diese sie aus eigenen Kräften erfüllen können. Können sie diese Aufgaben aus eigenen Kräften nicht erfüllen – z. B. im Bildungs- oder Sozialbereich – dann verpflichtet das S.sprinzip den Staat darüber hinaus, diese Aufgaben nicht gleich an sich zu ziehen, sondern Wege zu suchen, auf denen sich die Selbsthilfekräfte stärken lassen.“[5] „Dabei soll der jeweils kleineren Einheit (Gemeinde, Verein, bürgerschaftliche Initiative) die Regelung dessen, was sie regeln kann, vorbehalten bleiben.“[6]

Falsch interpretiert wäre das Subsidiaritätsprinzip allerdings, wenn man darunter lediglich die Delegierung von Verantwortung auf die unterste Ebene verstehen würde. Es geht keineswegs darum, staatliche Verantwortung an die unteren Verwaltungseinheiten, d. h. Kommunen etc. zu delegieren. Oder womöglich noch schlimmer: den Einzelnen mit seinen Problemen alleine zu lassen. Im Gegenteil: „Es verlangt eine Gesellschaft, in der Selbstverantwortung gefördert, jedoch niemand dadurch überfordert werde.“[7]

Regelmäßig werden Diskussionen über das Gleichgewicht der beiden Kräfte – Gebot der Hilfe und Gebot der Nichteinmischung –, die im Spannungsfeld des Subsidiaritätsprinzips für den Staat in seiner Rolle gegenüber den Bürgern und Bürgerinnen entstehen, geführt. In diesem Kontext spricht man auch von negativer und positiver Subsidiarität. „Erstere wehrt sich vorwiegend gegen ‚erstickende‘ Staatsangebote und schafft dadurch den Freiraum für Hilfen, die aufhelfen: die positive Subsidiarität versucht hingegen den Aufbauaspekt zu betonen, und muss vorsichtiger gegenüber den Staatshilfen oder durch anderen nähere Gremien sein.“[8] Dabei lässt sich das Subsidiaritätsprinzip in keiner Weise dazu nutzen, um eine Abschaffung überhaupt jeglicher verwaltenden oder übergreifenden Organisationsebene verstehen, im Gegenteil: „Es ist um Freiheit und Selbstorganisation besorgt, und es erklärt den Staat für unabdingbar nötig.“[9]

[1] (Brieskorn 2011: II., 4., b).

[2] (Brieskorn 2011: II., 4., b).

[3] (Brieskorn 2011: II., 3.).

[4] (Brieskorn 2011: II., 3.).

[5] (Spieker 2021).

[6] (Eintrag „Subsidiarität“ im Glossar der Transformation zur Geschichte der Deutschen Einheit „Lange Wege der Deutschen Einheit“).

[7] (Brieskorn 2011: II., 2.).

[8] (Brieskorn 2011: II., 4., c).

[9] (Brieskorn 2011: II., 7.).

Knapp zur Ideengeschichte

Wenngleich es den Subsidiaritätsbegriff als solchen noch nicht gegeben hat, lassen sich Grundüberlegungen zum Konzept der Subsidiarität, der Ansicht mancher Autorinnen und Autoren nach, bis hin in die Antike verfolgen.[1] Im 20 Jh. findet in der katholischen Soziallehre eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Prinzip auch dem Namen nach statt.

Der Jesuit Oswald von Nell-Breuning (1890-1991) bezeichnet das Subsidiaritätsprinzip im 20. Jahrhundert konkreter als eine „Erfahrungsweisheit“, welche sich schon in alten Ordensregeln wiederfindet (Augustinus von Hippo, Benedikt von Nursia, Franziskus von Assisi). Das Prinzip ist hier als ein Wesenselement der katholischen Soziallehre zu verstehen (Grundlage u.a. 1 Kor12, 12-26). Eine erste schriftliche Fixierung fand es in der Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno“ von Papst Pius XI. (15. Mai 1931):

„[…] Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten […] können, für […] die übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja in ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen. Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung […] soll die Staatsgewalt […] den kleineren Gemeinwesen überlassen. Sie selbst steht […] da für diejenigen Aufgaben, die in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, weil nur sie allein ihnen gewachsen ist: durch Leitung, Überwachung, Nachdruck und Zügelung, je nach Umständen und Erfordernis.“[2]

Papst Pius XI beschreibt an dieser Stelle das subsidiäre Handeln als ein gesellschaftliches Prinzip, das auf Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Entfaltung der individuellen Fähigkeit setzt.

[1] Vgl. (Brieskorn 2011: II, 1.).

[2] Zitiert nach (Blum/Gaisbauer/Sedmak 2021: 15 f.).

Subsidiarität heute - einige Ausdeutungen

Anwendung findet das Subsidiaritätsprinzip heute bei der Aufteilung von Aufgaben an Kommunen und Gemeinden. Auch bei den aktuellen Themen wie Konflikten zwischen staatlichen Direktiven und der Selbstverantwortung des Bürgers, Organisation von Bürgerengagement, Führungsstilen in Unternehmen oder dem sozialen Miteinander kann das Subsidiaritätsprinzip eine Handlungsorientierung darstellen. Zusammenfassend sind folgende Möglichkeiten und Bedingungen bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips zu beachten:

    • Das Subsidiaritätsprinzip stellt zwischen sozialen Gemeinschaften klar, dass die kleinere Einheit ein Recht auf Eigeninitiative besitzt und die übergeordnete größere Gemeinschaft sich nicht in deren Belange einmischen darf.
    • Subsidiarität funktioniert dort am besten, wo von jeder sozial relevanten Sphäre bedeutsame Beiträge zum Gemeinwohl erwartet werden können.
    • Das Subsidiaritätsprinzip stellt die Regelungskompetenz zwischen dem Individuum und überindividuellen Formen von Gemeinschaft dar. Kriterium für eine Aufgabenzuordnung ist die beidseitige Übereinstimmung über die Fähigkeit, die betreffende Aufgabe bürgernah zu lösen. Dabei darf es sich die übergeordnete Stufe nicht zu leicht machen und Aufgaben ohne eine Überprüfung dieser Möglichkeit an sich ziehen. (Kompetenzanmaßungsverbot des Subsidiaritätsprinzips)
    • Allerdings darf diese Regelungskompetenz nicht zu Machtmissbrauch der übergeordneten Stufen führen. Daher fordert das Subsidiaritätsprinzip die übergeordneten gesellschaftlichen Institutionen auf, den einzelnen Individuen und mittleren Körperschaften bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu helfen. (Hilfestellungsgebot des Subsidiaritätsprinzips)
    • Nach der Enzyklika Pius XI wird ein Verstoß gegen Subsidiarität (sozialethisch) als ungerecht, (pragmatisch) als nachteilig und (sozialpsychologisch) als verwirrend gewertet.
    • Das Subsidiaritätsprinzip weist verschiedene Dimensionen auf. Es ist Handlungs- und Organisationsprinzip (dezentrale Organisationen, flache Hierarchien etc.), es ist ein Prinzip für die Gestaltung von Staaten und auch der Europäischen Union (Art.3b) und es enthält Grundrechte eines demokratischen Rechtsstaates (z.B. Garantie der Familie, des elterlichen Erziehungsrechts). Wesentlich ist auch, dass es zur Initiative und zur Übernahme von Verantwortung auffordert. Zudem ist es ein zentrales Element von Freiheit!
    • „Personale Interrelationalität“ könnte ein wesentlicher Beitrag einer subsidiären Kultur sein. Die Subsidiarität muss hier nicht neu definiert, aber womöglich neu fokussiert werden: die Formen subsidiären Miteinanders werden sich zukünftig noch mehr aufeinander beziehen, um für eine Lebensgestaltung und auch für gesellschaftliches Handeln relevant zu sein. Das geht über vertrauensvolle Kompetenzübertragungen hinaus in einen delegativen und partizipativen Umgang mit Charismen, Kompetenzen, Systemen und Subsystemen. Mit anderen Worten: Es geht darum, zum Wohle des Ganzen, dem und den anderen dort, wo es sinnvoll ist, Platz zu machen.

Literatur zum Themenkreis „Subsidiarität“

  • Blickle, P., Hüglin, Th., Wyduckel, D. (Hg.): Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und
    Gesellschaft, Rechtstheorie – Beiheft 20, Berlin 2002
  • Blum, W., Gaisbauer, H.P., Sedmak, C.: Subsidiarität – Tragendes Prinzip menschlichen Zusammenlebens, Regensburg 2021
  • Böhnke, M.I.: Theologische Anmerkungen zur Gestaltung des Subsidiaritätsprinzips in der Kirche, in: PDF
  • Boll,Ch., (Hg.): Europa – Subsidiarität und Regionen, Bd. 15 der Schriftenreihe der Stiftung Westfalen-Initiative, Ibbenbüren 2018
  • Braun, A.: Bündnistheorie. Vom Römischen Reich bis zum Fall des Kommunismus – der Begriff Solidarität hat eine lange Reise hinter sich. Link
  • Brieskorn, N.: Subsidiarität, in: Link
  • Hartmann, M.: Solidarität als Ideologie. Link
  • Heimbach-Steins, M. (Hg.),: Christliche Sozialethik – Ein Lehrbuch, Regensburg 2004
  • Herzog, R.: Subsidiaritätsprinzip, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie X, 1998
  • Mäder, U.: Subsidiarität und Solidarität. Berlin [u. a.] 2000
  • Nell-Breuning, O.: Subsidiarität und Solidarität – Baugesetze der Gesellschaft, Freiburg 1990
  • Nell-Breuning, O.: Subsidiarität in der Kirche, in: Stimmen der Zeit, 1986
  • Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (Hg.): Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg 2014
  • Schneider, G., Toyka-Seid, C.: Solidarität. Link
  • Schneider, G., Toyka-Seid, C.: Subsidiarität. Link
  • Spieker, M.: Subsidiarität. Link
  • Subsidiarität“: Eintrag im „Glossar der Transformation“ zur Geschichte der Deutschen Einheit in der Rubrik „Lange Wege der Deutschen Einheit“ der Bundeszentrale für politische Bildung. Link
  • Tamm, S.: Solidarität aus freiheitlicher Perspektive. Link
  • Wils, J.-P., Zahnder, M. (Hg.): Theologische Ethik zwischen Tradition und Modernitätsanspruch. Festschrift für Adrian Holderegger
    zum sechzigsten Geburtstag, Fribourg/Freiburg i.Br./Wien 2005