Gedanken zum Aufbau der Europäischen Union

Gedanken zum Aufbau der Europäischen Union

Der Subsidiaritätsgedanke beschäftigte unseren Stifter Martin Leicht auch im Hinblick auf den Aufbau der Europäischen Union. Als politisch Engagierter begeisterte er sich für die Idee eines „Europas der Regionen“. Die Idee griff er von Alfred Heineken auf, dem Inhaber der gleichnamigen niederländischen Brauerei, der in seiner Veröffentlichung „The United States of Europe – A Eurotopia?“ von 1992 ein föderal organisiertes Europa entwirft, das aus 75 Teilregionen besteht. Von der Rückkehr zu einem kleinteiligeren Europa verspricht sich Heineken effizientere Verwaltungsstrukturen in den jeweiligen Einheiten. Diese teilt er nach drei Kriterien ein: Jede Region sollte eine Gesamtbevölkerung von etwa 5 bis 10 Mio. Einwohner*innen sowie eine zusammenhängende historische Entwicklung durchlaufen haben. Zudem sollten Kultur und Ethnie in der Region relativ homogen sein, sofern sich dies mit den ersten beiden Kriterien vereinbaren ließe. Eine der Regionen, die diesen Kriterien entspricht, ist Westfalen. Als zweiter Vorsitzender der Wirtschaftlichen Gesellschaft für Westfalen und Lippe sah Leicht deshalb in 1990er-Jahren in dem Ansatz des regional konföderierten Europas „einen politisch-wirtschaftlichen Bedeutungszuwachs für die ‚Europäische Region Westfalen'“.

Wir haben uns an dieser Stelle gefragt: Was genau steckt eigentlich hinter dem Konzept „Europa der Regionen“ und wo findet es seinen Ursprung?

Der Begriff „Europa der Regionen“ bezeichnet zunächst einmal ein politisches Konzept, das die einzelnen Regionen in Europa in ihrer Eigenständigkeit unterstützen und direkt fördern möchte, ohne dabei den Umweg über die EU-Mitgliedstaaten zu gehen. Es beruft sich dabei vor allem auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips.

Auf die politische Agenda schaffte es das „Europa der Regionen“ vor allem in den 1980er und 1990er-Jahren. Die dahinterstehenden originären Konzepte wurden jedoch vor allem in Frankreich bereits in den 1920er sowie in den 1960er-Jahren diskutiert. Besonders zu erwähnen sind hier zum einen das „Europe des Régions“ von Denis de Rougement sowie das „Europe des Ethnies“ nach Guy Héraud. Während diese Konzepte ursprünglich aus dem konservativen Spektrum kamen, entwickelte sich das „Europa der Regionen“ ab den 1980er-Jahren zu einem vielseitig anschlussfähigen Begriff, der von Akteuren jeder politischen Couleur aufgegriffen wurde.

In der Vorbereitung der Verhandlungen zum europäischen Vertrag von Maastricht, der mit seiner Unterzeichnung im Jahr 1992 die Gründung der Europäischen Union besiegelte, wurde die Gestaltung eines „Europas der Regionen“ diskutiert. Der Begriff wurde von den deutschen Bundesländern, insbesondere von Bayern, in die integrationspolitische Debatte getragen. Die Vorstellung, dass ein „Europa der Regionen“ tatsächlich den Nationalstaat ablösen könnte, wurde zu diesem Zeitpunkt im Großen und Ganzen für unrealistisch erklärt. Gerade aus diesem Grund, so forderten es die Bundesländer, sollte das Recht der Regionen und Mitgliedstaaten auf Mitwirkung und Mitsprache auf der europäischen Ebene institutionell abgesichert werden. So wurde die Forderung laut nach einer „Chambre Confédérale“, einer dritten Stufe im Unionsaufbau, die sich neben den europäischen Institutionen und den Nationalstaaten in die Gesetzgebung einbringen würde. Zudem forderten die Länder die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in die Gemeinschaftsverträge sowie ein Mitwirkungsrecht der Regionen im Ministerrat. Auch ein Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof sollten Länder und Regionen erhalten.

Mit diesen Forderungen hatten die Bundesländer gewissen Erfolg. Der Vorschlag zur Schaffung einer Vertretung für Regionen und Gemeinden wurde von der Europäischen Kommission mit der Schaffung des Ausschusses der Regionen im Jahr 1994 zumindest teilweise umgesetzt, jedoch mit begrenzten Mitspracherechten. Die Europäische Kommission präsentierte den Ausschuss der Regionen (Abkürzung: AdR) bei seiner Gründung als das neue bürgernahe Europa, räumte diesem als beratende Einrichtung faktisch jedoch nur geringe Mitspracherechte ein.

Was genau kann unter dem Ausschuss der Regionen (AdR) verstanden werden?

Der AdR setzt sich aus lokal und regional gewählten Vertretern aus allen Mitgliedsstaaten zusammen. Er hat die Aufgabe, Stellung zu geplanten EU-Rechtsvorschriften zu beziehen, von denen Regionen und Kommunen betroffen sind. Das ist bei etwa 70 % aller auf EU-Ebene beschlossenen Gesetzesvorhaben der Fall, zum Beispiel in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Verkehr oder Energie. Die EU-Institutionen müssen den AdR zwar anhören, sind jedoch nicht gezwungen, dessen Empfehlungen zu folgen. Daher ist es unklar, wie viel Einfluss die Regionen und Kommunen tatsächlich ausüben können. In jedem Fall stellt der AdR jedoch sicher, dass die Belange der Kommunen und Regionen auf europäischer Ebene zumindest Gehör finden. Das Bundesland Nordrhein-Westfalen ist mit 5 von insgesamt 24 deutschen Mitgliedern als Teilregion im AdR vertreten. Zu seinen Vertretern zählen Landtagsabgeordnete, führende Ministerialbeamte sowie Bürgermeister.

Eine Ausweitung der Kompetenzen des AdR oder andere Maßnahmen zur verstärkten Einbeziehung der Regionen in die Entscheidungsfindung auf EU-Ebene spielen in der aktuellen europapolitischen Diskussion eher eine untergeordnete Rolle. Der 2009 unterzeichnete Vertrag von Lissabon setzte zwar Reformen der EU-Institutionen in Gang, die Regionen und Kommunen sowie der AdR blieben hiervon jedoch weitgehend unberührt.

Wie wird das Konzept „Europa der Regionen“ in der wissenschaftlichen Debatte betrachtet?

Neuere Forschungen zeigen, dass Leichts Ansatz „Europa der Regionen“ in seinem Umfeld kritisch diskutiert wurde. Dieser sah in den 1990er-Jahren als zweiter Vorsitzender der Wirtschaftlichen Gesellschaft für Westfalen und Lippe in dem Ansatz des „regional konföderierten Europas (…) die Chance eines politisch-wirtschaftlichen Bedeutungszuwachses für die ‚Europäische Region Westfalens'“1Vgl. Zinkann et al. 2021, S. 21. . Dies führte zu großen Spannungen innerhalb der Gremien der Gesellschaft, da die regionale Stärkung Westfalens der „gerade frisch bewährte(n) föderale(n) Ordnung“2Vgl. ebd. der Bundesrepublik nach Integration der neuen Bundesländer widersprach. In der aktuellen wissenschaftlichen Debatte fand das Thema in den letzten Jahren jedoch wieder vermehrt Beachtung, nicht zuletzt aufgrund des 2013 von Ulrike Guérot und Robert Menasse veröffentlichten „Manifests für die Begründung einer europäischen Republik“. Es bleibt abzuwarten, ob sich auch die politische Diskussion diesbezüglich in Zukunft erneut öffnet.

  • 1 Vgl. Zinkann et al. 2021, S. 21.
  • 2 Vgl. ebd.

Literatur zum Themenkreis „Europa der Regionen“

  • Ellerbrock, Karl-Peter; Wixforth, Harald; Springensguth, Jost (Hg.): Freies Unternehmertum und Soziale Marktwirtschaft – 100 Jahre Wirtschaftliche Gesellschaft für Westfalen und Lippe, 100 Jahre Westfälische Wirtschaftsgeschichte, Dortmund/Münster 2021
  • Zinkann, Reinhard, Springensguth, Jost, Einführung: 100 Jahre Wirtschaftliche Gesellschaft für Westfalen und Lippe, 100 Jahre Westfälische Wirtschaftsgeschichte, in: Ellerbrock, Karl-Peter; Wixforth, Harald; Springensguth, Jost (Hg.): Freies Unternehmertum und Soziale Marktwirtschaft – 100 Jahre Wirtschaftliche Gesellschaft für Westfalen und Lippe, 100 Jahre Westfälische Wirtschaftsgeschichte, Dortmund/Münster 2021
  • Fritsch, Maximilian: Europa der Regionen, Schriftenreihe Europäisches Recht, Politik und Wirtschaft, Bd. 396, Baden-Baden 2020
  • Boll, Christoph, (Hg.): Europa – Subsidiarität und Regionen, Bd. 15 der Schriftenreihe der Stiftung Westfalen-Initiative, Ibbenbüren 2018
  • Kohr, Leopold: Das Ende der Großen – Zurück zum menschlichen Maß, 4. Aufl., Salzburg/Wien 2017
  • Posener, Alan: Gegen ein Europa der Regionen, in: Link
  • Löpfe, Philipp: Europa der Regionen: Eine gute Idee mit einem großen Haken, in: Link, 2017
  • Guérot, Ulrike: Warum Europa eine Republik werden muss – Eine politische Utopie, Bonn 2016
  • Menasse, Robert: Der Europäische Landbote, Wien 2012
  • Köck, Helmuth: Europa der Regionen: konstruktiv oder kontraproduktiv für den Europäischen Integrationsprozess? Europa Regional 2005, S. 2-11
  • Ruge, Undine: Die Erfindung des „Europa der Regionen“ – Kritische Ideengeschichte eines konservativen Konzepts, Frankfurt/New York 2003
  • Mädling, Heinrich: Perspektiven für ein Europa der Regionen, in: Standort – Zeitschrift für angewandte Geografie, 1999, S. 5-11
  • Westfälischer Heimatbund (Hg.): Westfalen – Eine Region mit Zukunft, Münster 1999
  • Westfälischer Heimatbund (Hg.): Westfalen in Nordrhein-Westfalen – Positionsbestimmungen, Münster 1998
  • Harhues, Dietrich: Europa der Regionen – Zwischen Vision und Wirklichkeit, Bd. 2 der Schriftenreihe der Wirtschaftlichen Gesellschaft für Westfalen und Lippe, Rheine 1996
  • Bauer, Joachim (Hg.): Europa der Regionen – Aktuelle Dokumente zur Rolle und Zukunft der deutschen Länder im europäischen Integrationsprozess, 2. Aufl., Berlin 1992
  • Heineken, Alfred H. in: De Amsterdamse Stichting voor de Historische Wetenschap, The United States of Europe (A Eurotopia?) – Second thoughts on Europe, 2. Aufl., Amsterdam 1992
  • Parkinson, Cyril Northcote: The Law of Delay, London 1970
  • Kohr, Leopold: The Breakdown of Nations, London 1957
  • Bundeszentrale für politische Bildung: Europa der Regionen; Link