30 Jahre Maastricht-Urteil - Ein Jubiläum der politischen Subsidiarität

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Als überzeugte Europäerin erinnert die Stiftung Westfalen-Initiative heute, am 12. Oktober 2023, zum Jubiläum des Maastricht-Urteils an den „Maastricht-Vertrag“ und damit auch an den Start der Europäischen Union am 1. November 1993.

Die historisch-politischen Umstände dieser Zeit und die Diskussion um den Aufbau und die Struktur der Europäischen Union haben die Gedankenwelt unseres Stifters, Martin Leicht, nachhaltig geprägt. Unsere Stiftungsurkunde verweist in ihrer Präambel direkt auf die europäischen Verträge. Beispielhaft zeigt dies auch der Einleitungstext (siehe unten) zu einer Veröffentlichung von 1996 (Dietrich Harhues: Europa der Regionen. Zwischen Vision und Wirklichkeit), die Leicht als stellvertretender Vorsitzender der Wirtschaftlichen Gesellschaft für Westfalen und Lippe e. V. persönlich unterzeichnet hat.

Das Maastricht-Urteil ist ein Jubiläum der politischen Subsidiarität, weil das Subsidiaritätsprinzip in der Diskussion um die Verträge zur Europäischen Union eine wesentliche Rolle gespielt hat – insbesondere bei den Ratifizierungsprozessen in den einzelnen Nationalstaaten. Das dänische Volk hat sich erst in einer zweiten Volksabstimmung zu einer Zustimmung überzeugen lassen, wo in der Debatte das Subsidiaritätsversprechen von Maastricht relevant war.

Die Bundesrepublik Deutschland hat anlässlich der Ratifizierung das Subsidiaritätsprinzip auch in ihre Verfassung, das Grundgesetz, aufgenommen. In Artikel 23 heißt es seit nunmehr 30 Jahren:

„Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“

(https://www.bundestag.de/resource/blob/696522/0391b17f905ec85549b4ebf2eddce9d9/WD-3-049-20-pdf-data.pdf)

Der Prozess der Vertragsschlüsse zur Entstehung der EU als Staatenverbund verdeutlicht auf anschauliche Weise die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips als politisches Ordnungsprinzip.

Doch was genau ist der Vertrag von Maastricht und warum kam es überhaupt zu einem Gerichtsverfahren?

Durch die Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht vom 7. Februar 1992 sollten die Europäischen Gemeinschaften für Kohle und Stahl (EGKS), die Atomgemeinschaft (EAG) und die Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu einer übergreifenden politischen Union werden: zur Europäischen Gemeinschaft. Besonders bedeutsam: Es wurde die Währungsunion vereinbart, der Vorläufer der Europäischen Zentralbank gegründet und die Kriterien für den Beitrag zur gemeinsamen Währung, die erst später „Euro“ getauft wurde, wurden festgelegt. Noch heute ist vielfach von den „Maastricht-Kriterien“ die Rede.

Doch bis zum Inkrafttreten des Vertrages sollte es noch bis zum 1. November 1993 dauern. Denn auch unter den grundsätzlichen Befürwortern dieser Entwicklung kam es zu Befürchtungen bezüglich der Verflechtungen, der Kompetenz(-um-)verteilung und der Kompetenzübertragung auf die EU.

Unter dem Begriff „Europa der Regionen“ sammelten sich diejenigen, die – wie Martin Leicht – im Anschluss an den Soziologen Daniel Bell der Auffassung waren, dass der Nationalstaat für Probleme vor Ort zu groß und für umfassendere Probleme (bspw. Umwelt- und Sicherheitspolitik) zu klein sei. Deswegen befürwortete diese Bewegung die Europäische Gemeinschaft, allerdings immer mit dem Hinweis auf die Relevanz der regionalen Selbstbestimmung.

Vor allen Dingen seitens der föderalen Bundesrepublik Deutschland gab es Widerstand. Denn es kam Zweifel daran auf, ob der Europäischen Union nicht doch eine Art „Staatlichkeit“ unterstellt werden konnte. Ob sie nicht zu einem „staatsähnliche[n] Gemeinwesen mit grundsätzlicher Allzuständigkeit“ (https://online.ruw.de/suche/riw/Maastri-die-grundgesetzli-Ordn-und-die-Superrevisi-c1bd80090916ce3d5841eba416e4c499) geworden sei.

Trotz und vielleicht sogar insbesondere wegen des Beschlusses von Bundestag und Bundesrat der Grundgesetzänderung vom 21. Dezember 1992, vor allen Dingen aufgrund des Artikels 23 GG, hielten die Beschwerdeführer die Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags für verfassungswidrig.

Diese sog. „Struktursicherungsklausel“ sichert den Erhalt subsidiärer und demokratischer Strukturen zwar explizit zu und verleiht vor allen Dingen dem Subsidiaritätsprinzip nun auch namentlich eine prominente Stelle im Grundgesetz, legitimiert damit allerdings auch überhaupt erst die Mitgliedschaft der BRD in der supranationalen Europäische Union.

Vor allen Dingen zwei Gründe für die Vermutung der Verfassungswidrigkeit sind angeführt worden:

  1. Diese Neustrukturierung gefährde das Demokratieprinzip der Bundesrepublik, weil der Bundestag als Instrument der Machtausübung des Volkes politischen Einfluss auf gültiges Recht in der BRD verlieren könnte.

 

  1. Die Sorge, dass diese politische Neuordnung und die Übertragungen von Hoheitsrechten auf die Europäische Gemeinschaft dem Prinzip der Subsidiarität, zu dem die Bundesrepublik als föderaler Staat (gem. Art. 79 Abs. 3 GG) auch schon vor der Aufname des Art. 23 verpflichtet gewesen ist, widerspricht.

 

Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass die Verantwortung, aber auch die Entscheidungs- und Gestaltungsgewalt, stets bei der möglichst niedrigsten Verwaltungeinheit zu belassen ist, solange diese in der Lage ist, die Probleme vor Ort ohne Überforderung alleine, bzw. selbstständig, mindestens genauso gut zu lösen.

Nicht nur die Bundesrepublik als Nationalstaat, sondern auch und gerade die Bundesländer fürchteten also eine Einbuße ihrer Souveränität.

Im Maastricht-Urteil wies das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde zwar ab, behielt sich allerdings vor, auch zukünftige Kompetenzübertragungen zu prüfen.

Dem Subsidiaritätsprinzip werde Rechnung getragen, da – so hielt das Bundesverfassungsgericht fest – den europäischen Organen auch im Zuge des Maastricht-Vertrages keine „Kompetenzenkompetenz“ zukomme. Das heißt: die EU wird dadurch nicht in die Lage versetzt, sich selbst neue Kompetenzen zu verleihen, sondern ist diesbezüglich eindeutig auf die ausdrückliche Ermächtigung durch die deutsche Gesetzgebung angewiesen.

Auch das Demokratieprinzip werde nicht verletzt, da die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU (als Staatenverbund) weiterhin gerechtfertigt ist, solange Beschlüsse auf EU-Ebene durch demokratische Einflussnahme gekennzeichnet und damit politisch durch das deutsche Volk legitimiert sind.

Das Maastricht-Urteil ist ein Jubiläum der politischen Subsidiarität, weil das Subsidiaritätsprinzip von der Vertragsunterzeichnung bis zur endgültigen Ratifizierung – bspw. durch das Organ des Ausschusses der Regionen, das den Regionen eine Repräsentation im Ministerrat der EU zugesteht – eine wesentliche politische Rolle spielt und damit auch Eingang in die breitere öffentliche und politische Debatte fand.

Die Verfassungsbeschwerde sowie die Reaktion darauf mit dem Maastricht-Urteil und auch die Weiterentwicklung der Realisierung des Subsidiaritätsprinzips durch das Mittel der Subsidiaritätsrüge durch den Reformvertrag von Lissabon (2009) weisen darauf hin, dass das Prinzip der Subsidiarität zu einem der Grundprinzipien des europäischen Staatenbundes gehört. Die aufmerksame Betrachtung, ob das Prinzip im täglichen Leben der Union genug Beachtung findet, wird weiterhin unsere Aufgabe sein.

Quellen:

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/1998/03/rs19980331_2bvr187797.html

https://www.bundestag.de/resource/blob/696522/0391b17f905ec85549b4ebf2eddce9d9/WD-3-049-20-pdf-data.pdf

https://online.ruw.de/suche/riw/Maastri-die-grundgesetzli-Ordn-und-die-Superrevisi-c1bd80090916ce3d5841eba416e4c499

https://www.degruyter.com/document/doi/10.14315/zee-1970-0132/html

https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/43786

https://www.juracademy.de/europarecht/vertrag-von-maastricht.html